Speed – Ein Raumlehrstück


In: Ästhetik und Kommunikation Heft 125, Sommer 2004, Thema: Ästhetische Erziehung im Medienzeitalter, S. 47-52

Der Text ist ein exemplarischer Versuch, die faszinierende Aussagekraft von Filmen für die Stadtanalyse zu belegen. Referenzfilm ist SPEED (Jan de Bont, USA 1994). In einem ersten Kapitel – Drei Raummodelle der Moderne – werden die in dem Film vorgestellten Hochleistungsräume der modernen Großstadt (Lift, Freeway, U-Bahn) kulturtheoretisch „verlängert“. Ein zweites Kapitel – Vom Funktionsraum zum Affektraum – bespricht das Umschlagen des vertrauten „gekerbten“ Raumes der Stadt in einen „glatten“ Ereignisraum. Und ein drittes Kapitel – Die performative Stadt – reflektiert die medialen Transformationen des Urbanen. Angeleitet wird die Untersuchung von einer heuristischen Formel, die ich im Zuge meiner Forschung entwickelt habe: Geoästhetik, das meint in einer ersten Annäherung die Konstruktion von Raum über Wahrnehmung, Bilder, Medien.


In diesem Text möchte ich zu zeigen versuchen, welchen „ästhetischen Mehrwert“ ein auch kommerzielles Action-Kino für den aufmerksamen und investigativ-umtriebigen Kinobenutzer haben kann. „Ästhetisch“ verstehe ich hier als den Prozeß sinnlicher Erkenntnis und von „Benutzer“ rede ich in einem pragmatischen Sinne: für welche Logik der Bedürfnisse und Begehrnisse läßt sich ein bestimmter Film in Verwendung ziehen? Meine Forschung hat mich in den letzten Jahren immer wieder die Frage nach der „Errettung des Raumes“ durch die Medien stellen lassen, von der Fotografie über das Kino zu Fernsehen und Internet. In diesem Zusammenhang entstand der Begriff der „Geoästhetik“, eine heuristisch-erkenntnisleitende Formel, die mir im Gestrüpp medialer Wirklichkeiten Orientierung und Ausblicke ermöglicht. Geoästhetik, das meint in einer ersten Annäherung die Konstruktion von Raum über Wahrnehmung, Bilder. Folgende Analyse soll den Lerneffekt, der mit dieser Formel einher geht, kenntlich machen. Auf das Kino bezogen, will ich vorausschicken, dass der einzelne Film für mich ein sehr besonderes Material, ein singulärer Rohstoff ist, der sich meinen Fragen gegenüber willens sie zu beantworten oder auch nicht zeigt. Entscheiden Sie selbst, ob ein Film wie SPEED tatsächlich Auskunft über einige Grunddispositive der (Post-)Moderne zu geben in der Lage ist und er folgerichtig an zahllosen Orten der Vermittlung zum Einsatz kommen könnte.

Abstract SPEED, Jan de Bont, USA 1994
Howard (Dennis Hopper), ehemaliger Polizist, vermint nacheinander drei öffentliche Verkehrsmittel um das L.A.P.D. zu erpressen. Der mittlere Fall, ein Bus, ist besonders spektakulär: Sobald der Bus nach seiner Abfahrt über 50 miles/h. fährt, muß er diese Geschwindigkeit halten, ansonsten detoniert die Bombe. Jack (Keanu Reaves), der Polizist, versucht dies zu verhindern. Nachdem der Busfahrer in einer Nebenhandlung angeschossen wird, übernimmt eine Passagierin, Annie (Sandra Bullock), das Steuer.

Drei Raummodelle der Moderne

Wenn Keanu Reaves alias Jack in dem Film SPEED im dritten Akt in einer Untergrundbahn in L.A. (hatte man vor diesem Film eigentlich Kenntnis von der Existenz dieses öffentlichen Verkehrsmittels in dieser Stadt?) seine letzte Meisterleistung einer Demobilisierung des urbanen Transportmittels vollbringt, dann gingen dieser bereits zwei weitere Stillstellungen mechanisch beschleunigter öffentlicher Fortbewegungsmittel voraus: die eines Liftes in einem Hochhaus und die eines Busses auf den Freeways und schlussendlich einem Flugfeld der Stadt. Ich will zunächst die mit den drei Mobiles korrespondierenden Raum-Modelle besprechen, bevor ich auf die Raum-Mechanik eingehe, mittels derer der Film beispiellos Effekte/Affekte produziert. Diese drei Modelle oder Raum-Systeme der Moderne werden filmisch herausgestellt, d.h. sie sind das Ergebnis einer geoästhetischen Repräsentationsstrategie des Kinos. Eine Strategie, die exemplarisch Wahrnehmungsräume entfaltet und deren Sujet in SPEED drei moderne Hochleistungsräume sind, Bewegungsräume deren Bewegung von Maschinen ausgeführt wird. Bewegungsräume haben übrigens den Vorzug, einem Raumverständnis zuzuarbeiten, das diesen weniger als dreidimensionale Schachtel begreift, denn als Ergebnis einer relationalen Anordnung, als stets veränderliche Summe von Lagebeziehungen. Raum ist Ausdruck von Beziehungen und nicht von Umschließungen.

Das erste vorgestellte Raummodell ist das des Hochhauses bzw. der Bewegung in einem Hochhaus. Der Hochhausbau, Reaktion auf die massive Verdichtung vor allem amerikanischer Großstädte in der zweiten Hälfte des 19. Jh., organisiert – aufgrund seiner Ausrichtung in die Höhe – auf vielen Stockwerken mit reduzierter Grundfläche schichtenartig das Zusammenleben und –arbeiten der Menschen. Heute würde man in Analogie zur Informationsarchitektur von „layers“ sprechen, von Schichten oder Plateaus, die untereinander kommunizieren. Die Verbindung zwischen diesen Plateaus konnte nicht mehr dem üblichen Treppenaufbau anvertraut werden, da sich sehr rasch die Grenzen real-körperlicher Aufstiegsbewegung, sagen wir vom 12. in den 53. Stock, bemerkbar machen würden. Also musste auch hier die Mechanisierung Platz greifen und ein mechanisch angetriebener Aufzug wurde entwickelt, der die Stockwerke in einer galanten vertikalen Aufwärtsbewegung zügig verbindet, während die ihn benutzenden Menschen im Stillstand verharrten, sich der Fremdbewegung der Aufzugs-Maschine überlassen müssen. Der Bewegungsraum innerhalb des architektonischen Raumes des Hochhauses ist also ein hoch artifizieller, da er die Eigenbewegung des menschlichen Körpers zutiefst ignoriert und ein „maschinelles Ensemble“ (Schivelbusch) entwirft, von dem der Mensch bloß passives Teilelement ist. Dies erklärt vermutlich auch die leise Ängstlichkeit, die viele Menschen auch heute noch beschleicht, wenn sie einen Lift besteigen und mit mächtiger Kraft entweder aufwärts oder abwärts bewegt werden. Höhe und Tiefe sind für den Menschen psycho-dynamisch schwieriger erfahrbar, als eine Bewegung in der Horizontalen. Man befindet sich in einer Kabine, einem Container, zumeist ohne Ausblick, der viele Meter Höhenunterschied in kaum merklicher Anstrengung bewältigt. Das vertikale Vollziehen einer Hinauf- und Hinabbewegung denaturalisiert den körperlichen Aktionsradius. Der Bewegungsraum schrumpft zu einer leicht taktilen Wahrnehmung bzw. wird bloß repräsentiert im Wissen um die maschinelle Leistung, sichtbar gemacht an auf- und absteigenden Zahlen auf einem kleinen Display, ein Bewegungsbild als Ergebnis einer statistischen Messung.

Ich möchte an dieser Stelle den von Erwin Panofsky im Zuge seiner Beschäftigung mit der Zentralperspektive eingeführten Begriff des »Systemraums« auf die hier besprochenen drei Raummodelle der Moderne anpassen. Systemraum ist der Aufzug insoferne, als er durch seine Konstruktion einen „völlig rationalen, d.h. unendlichen, stetigen und homogenen Raum“ gewährleistet, ein Raum also, der dem „psychophysiologischen“ des Menschen völlig entgegengesetzt istTendentiell „unendlich“ ist der Liftraum insoferne, als sein stets gleichförmiger Aufbau, die Röhre, keine „natürlichen“ Wahrnehmungsgrenzen kennt. Sie vermag sich hunderte Meter zu erstrecken, die vom Menschen nicht einzusehen sind. Und „homogen“ ist dieser Raum insoferne er „konstruktiv-erzeugt“ ist und ein rein „funktionales Sein“ hat. Es existiert eine „strenge Gleichartigkeit“ der Richtung. Gleiche Eigenschaften hat auch das zweite im Film vorgestellte Raummodell, jenes des Straßennetzes in L.A., ein endloses Gewirr an Freeways, Boulevards, Avenues, Streets und Ways, die die Stadt durchziehen. Wir bewegen uns also aus dem Hochhaus als prototypischem Bauwerk der modernen Großstadt hinaus und „fahren“ nunmehr in der Stadt selbst.

Die Freeways von L.A. folgen nicht mehr dem Modell alter Straßenanlagen, die zwei Punkte miteinander verbinden. Vielmehr ist dieses Modell ebenfalls ein hoch künstliches, das zum Fahren konzipiert ist, weniger zum Ankommen. Was im Deutschen nicht vorgesehen ist, nämlich die Unterscheidung von rue und route, oder von street und road, zeigt bereits an, daß sich nicht nur Größenordnungen ändern, sonder auch die Funktionalität und die Sichtbarkeit der Stadt als solche.  SPEED wird in seiner mittleren Episode, die bezeichnenderweise auch die längste ist, viel Zeit darauf verwenden, ein Straßenmodell zu beschwören, das ebenfalls Ergebnis urbaner Verdichtung und zugleich Apotheose des Ingenieurswissen ist, als Erfindung des Explosionsmotors und damit als serielle Produktion von Automobilen für den Individual- und den öffentlichen Verkehr. Die von der „Permanent International Association of Road Congresses“ 1927 organisierte Konferenz hatte zum ersten Mal des Thema „Autoverkehr“ als ihr Leitmotiv.  Nun begann eine Planung der Stadt, die dem System unterschiedlicher Straßen, dem Straßennetz, oberste Priorität einräumte und jenem Phänomen zur Entwicklung verhalf, das Raymond Williams „mobile privatisation“ nannte.  Alle sind nun potentiell beweglich und „privatisieren“ in und mit dieser ihrer mechanischen Beweglichkeit den Straßenraum. Dieser wird zum Fahren, Weiterkommen, Beschleunigen umdefiniert und alle Aktivität, die mit ihm passiert, ist genau auf diese Fahren per se abgestimmt – und nicht mehr auf eine dimensionale Bewegung im Stadtkörper. Der homogene Systemraum Straße beherrscht die Stadt – er ist „isotrop“, also nach allen Richtungen gleichartig. Das Straßennetz verselbständigt sich und wird zum Verstärker einer zivilisatorischen Transformation. Die mobile Gesellschaft und ihre hoch-mobilen Individuen treten auf. Der Systemraum setzt eine komplexe Straßenlandschaft mit individuell gesteuerten Kraftfahrzeugen zueinander in Beziehung. Zwar individuell gesteuert, jedoch mechanisch fortbewegt. „Es“ fährt die Menschen, sie werden „gefahren“ und somit ist offensichtlich, daß dieser maschinelle Verkehr gerade in dem Imperativ der Fremdbewegung seine Schwachstelle hat. Die denn auch im Film von dem „Bösen“ kaltblütig ausgenutzt wird. Der Bus muss über 50 miles/h fahren, wenn nicht wird die Maschine und die von ihr transportierten Menschen zerstört. Was der Film allerdings noch aufdeckt, ist ein soziales Faktum. In L.A. den Bus nehmen bedeutet, Teil einer gesellschaftlichen Schicht zu sein, die zu den ärmsten zählt, kaum etwas ist billiger und für den Sozialstatus bindender als das eigene Auto. Insoferen sehen wir in diesem Bus (fast) nur Randgruppen, unterpriveligierte Gruppen, die sich zwar auch „bewegen“, also mobil sein müssen, dennoch diese Mobilisierung nicht individualisiert zu produzieren in der Lage sind.

Das dritte, vom Film dargestellte Raummodell, ist ebenfalls eines der modernen Großstadt, diese wird allerdings nun noch umfangreicher, besser: intensiver erschlossen, als es das Straßensystem zu leisten vermag. Es ist jenes der „Stadtzüge“, der Metros, der U-Bahnen. Dieser Raum hat im Vergleich zum Straßennetz eine einfachere Konstruktion, sein Plan zeigt auf einen Blick den Streckenverlauf und das System hat den Vorteil, in kürzester Zeit große Distanzen zu überwinden. Das gelingt mit der Übernahme der Logik der Eisenbahn: ein Schienenweg, ohne Gegenverkehr und Abzweigungen, arretiert wird der Zug nur an den Stationen. D.h. die U-Bahn kann ohne Rücksicht auf andere Züge stetig voran fahren und zugleich viele Menschen transportieren. Natürlich gelingt das nur, da das Schienennetz in den Untergrund verlegt wurde, also eigentlich als ein Kanal- oder Rohrsystem den Zügen erlaubt, ohne Hindernisse ihre Bahn zu nutzen. In diesem Verkehrsmittel hat man wohl noch viel mehr das Gefühl einer Fremdbewegung, da der Aussenraum völlig inexistent und auch der Fahrer nicht zu sehen ist. Einzig das Fahren, wiederum spürbar als taktile Bewegung, ist Gegenstand der Nutzung. Diesem ist denn der Passagier auch völlig ausgeliefert.

Alle drei besprochenen funktionalen Bewegungsräume sind solche des „öffentlichen Verkehrs“ der Moderne, eingebunden in ein strenges Regelwerk an Vorschriften und Verboten. Umso naheliegender scheint es für einen Action-Film, dieses Regelwerk systematisch zu durchbrechen. SPEED tut dies allerdings mit der Prägnanz eines Kalküls, das die Mechanik des Umschlags von einem Raumtyp in einen anderen beispielhaft demonstriert.

Vom Funktionsraum zum Affektraum

Der Film verhandelt zum eigentlichen eine Skizze großstädtischer, zeitgenössischer Bewegungs-dramaturgien, die allesamt den Raum der Stadt hoch wirksam kerben. Ich möchte an dieser Stelle auf zwei Kategorien zugreifen, die von Deleuze/Guattari entwickelt worden sind und die, wie ich finde, in SPEED eine resolute Umsetzung erfahren, die Kategorie des „gekerbten“ und des „glatten Raumes“.  „Im gekerbten Raum wird eine Oberfläche geschlossen, und entsprechend den festgelegten Intervallen, nach den festgesetzten Einschnitten wird diese geschlossene Oberfläche dann aufgeteilt.“ Der gekerbte Großstadtraum, das sind zunächst die multi-dimensionalen Extensionen der Nutzfläche, die entlang von Maßeinheiten, in diesem Fall einem grid-Maß, also einem metrischen Raster, den geographischen Raum markieren und prägen, ihn also auch als verdichteten „Eigentumsraum“ entwerfen: Wohnungen, ebenso wie Handels- und Arbeitsstätten, Verwaltungs- und Freizeiteinrichtungen. Um jedoch zwischen diesen Einheiten und Kerben zu vermitteln und Austausch und Kommunikation zu ermöglichen, bedarf es der erwähnten Bewegungsdramaturgien, die so nur in großen Städten sich ausbilden konnten. Linien, die von einem Punkt zum nächsten gezogen werden, Intervalle, die, genau berechnet, von einer Station, einer Haltestelle, einer Etage zur nächsten verlaufen und allesamt einen großen verkehrstechnischen Organismus entwerfen, eine Organisation zum Zwecke der Mobilisierung und der Interaktion der Bevölkerung. Gekerbte Räume formulieren also stets auch extensive Inszenierungsregeln der Navigation durch das Stadtgewebe, der Verbindung mit dem, des Anschliessens an den Anderen. Gerade die für die Beziehungsgründung elementaren Punkte, an denen Aus- und Einsteigen möglich wird, ob im Aufzugsparcours, im Bus- oder Metroplan, diese Einschnitte werden in SPEED gekappt, bzw. überfahren, der Lift, der Bus, die U-Bahn, sie bewegen sich regellos schnell voran, durchbrechen die Intervallgrenzen und werden zu einer Gefahr für die Benutzer. Howard pervertiert den Funktionsraum Straße, als er den Bus zum schnellen Fahren zwingt: nun muß gefahren werden, eine Alternative gibt es nicht mehr.

Die Linie wird zu einem Vektor, der einer Richtung folgt und einen glatten Raum ausbildet, einen Ereignis- oder Affektraum. SPEED berichtet in der Person Dennis Hopper alias Howard von Störungen, die kurzzeitig die Ausbildung eines glatten Raumes ermöglichen, bzw. erzwingen, eines amorphen, unendlich variierbaren Raumes (vor allem im gewichtigen zweiten Akt der Busfahrt). Innerhalb dieser Störungen beginnt der Zuschauer im Kino mit zu vibrieren, beschleunigt sich seine Wahrnehmung, wird sie eher happtisch, denn optisch, verlieren die Koordinate und Maße ihre Verbindlichkeit. „Während im gekerbten Raum die Formen eine Materie organisieren, verweisen im glatten Raum die Materialien auf Kräfte“, diese erzeugen ein „intensives Spatium“, Lift und Liftschach, Bus und Freeway, U-Bahn und Rohrsystem, sie alle bilden nun einen „organlosen Körper“, der, wie sollte es anders sein, wenn eine Institution wie die Verkehrsbetriebe zu einer „Kriegsmaschine“ umfunktioniert wird, nur mehr zerstören, vernichten kann, zum Schluss selbstverständlich sich selbst!  Der Bus soll bloß fahren – über 50 miles/h – und nicht mehr anhalten, ununterbrochen fahren. Dieser plötzlich aufgebrochene glatte Raum läßt die Fahrgäste unfreiwillig zu Nomaden werden, die Fahrt zum Ereignis. Die Mechanik des Umkippens von einem gekerbten in einen glatten Raum ist denn auch Ursache für die ungemein wirkungsvolle geoästhetische Affektstrategie des Films. Kaum ein Zuschauer, eine Zuschauerin, die nicht atemlos im Bann der Geschwindigkeit stehen.

Die performative Stadt

SPEED ist ein Film, der – von seiner Anlage her – so nur in einer Großstadt spielen kann: In Städten und ausgehend von Städten haben die Kulturen der Neuzeit begonnen, Selbstbewegung durch Fremdbewegung zu ersetzen. Die motorische Fortbewegung des menschlichen Körpers entsprach nicht mehr den Distanzen und Beschleunigungen, die im Zuge der Industrialisierung sich etablierten. Sie, die Selbstbewegung, wurde ersetzt durch mechanisch angetriebene Mobiles, die den Menschen nunmehr fremdbewegt von einem Punkt zum nächsten „transportierten“. (Möglicherweise hat diese normierte Fortbewegung auch dazu geführt, dass sich vor allem Jugendliche heutzutage mit eigentümlich „glatten“ Techniken dieser entgegensetzen. So erlauben Skateboards oder Rollerskaters sicherlich ein Überspringen der Kerben und ermöglichen endlose Variationen in einem informellen Raum, die intensiv und kraftvoll erlebt werden.) Mit Beginn der Moderne werden jedoch Medien entworfen, die den Körper selbst nicht mehr bewegen, sondern bloß noch seine Sinnes- und Kommunikationsvermögen. Hören, Sehen und Sprechen vermögen – medial – Distanzen in Sekundenschnelle zu überwinden und entwerfen somit eine revolutionären geoästhetischen Strategie. Telegrafieren, Telefonieren und Fernsehen, Videoüberwachung, das Internet, sie alle lassen die materiellen, organischen und geometrischen Kerbungen der Stadt seltsam alt erscheinen, bilden sie doch einen gänzlich neuen Organismus aus, einen reinen, hoch dynamischen Wahrnehmungsraum, der zugleich eine zweite, universelle Stadt sich entwickeln läßt. Diese performative Stadt wird geformt durch Übertragungen, durch Sende- und Empfangsstationen, Kerbungen, die nunmehr einen sozio-medialen Raum öffentlichkeitskonstituierend/kontrollierend ausbilden, der wesentlich komplexer als der gebaute-materielle sein kann. Die träge, materiell-mechanische Aktionsform wird überspielt von einer Ubiquität der immateriell-kommunikativen Performanz medialer Systeme.

Howard überwindet die physischen Raumgrenzen, die ihn vom Bus trennen, mit Hilfe einer versteckten Videoüberwachungskamera. Er etabliert also insgeheim einen sozio-medialen Raum, der ihm eine Koexistenz mit dem Bus und seinen Insassen ermöglicht und ihm erlaubt, einzugreifen, eine Koinzidenz stattfinden zu lassen, sollten sich die Passagiere regelwidrig verhalten. Während also das Filmbild zunächst in Unkenntnis seiner Rivalin – der Übertragungskamera – eine „brave“ Repräsentation der Raummodelle, hier des öffentlichen Verkehrsmittel „Bus“, gewährleistet, entwirft das Videobild einen, mit Giddens gesprochen „phantasmagorischen Raum“, einen Schauplatz, der „von entfernten sozialen Einflüssen gründlich geprägt und gestaltet“ wird.  Eigentlich ist Howard selbst derjenige, der den glatten Raum – obwohl er sein Verursacher ist – gefährdet, insofern er eine extensive Kontrolle ausübt, den Busraum also prophylaktisch kerbt um das Fließen und den Affekt abzustoppen (Kontrolle heißt kerben). Also muss Jack eine, wenn man so will, „Gegenkerbung“ vollziehen, um den Bus nunmehr seiner Kontrolle zu unterwerfen – zugleich wird er aber in dieser Gegenbewegung den glatten Raum auflösen. Und dies gelingt ihm nur, indem er das Übertragungsbild stoppt, eine simulierte Übertragung einspeist und Howard vorspielt, er wäre immer noch angeschlossen. Die Performanz der Stadt ist also für Howard fortan gestört und er unterliegt einer Illusion – einer Illusion als Aufzeichnung. Dieser Vorgang enthüllt die dritte Strategie des Films, nämlich die einer inter-medialen Reflexionsstrategie. Die Rivalität zwischen Film- und Videobild verläuft entlang der Frage: Welches Bild sieht mehr? Und lange Zeit waren wir mit dem Filmbild der Videoüberwachung durch Howard ausgeliefert. Erst nachdem Jack die Übertragung stoppt und quasi eine Filmschleife einspeist, gewinnt das Filmbild wieder die Oberhand.

Während Jack also eine gewisse Reterritorialisierung gelingt, indem er die Passagiere in Sicherheit bringt, bleibt dem Zuschauer, der Zuschauerin wohl eher das Wissen um den raschen und unvorhersehbaren Umschlag der vertrauten und selbstversichernden, gekerbten Räume in die offenen, unsteuerbaren, glatten Räume, Umschlag vom Seßhaften zum Nomaden, vom Eigentum zum Ereignis.

SPEED ist also ein Lehrstück für den Raum in der Postmoderne. Jedoch, so Deleuze/Guattari, sollte man niemals glauben, „daß ein glatter Raum genügt, um uns zu retten“.

Literatur

Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaux, Kapitel „1440 – Das Glatte und das Gekerbte". Berlin: Merve 1992, orig. 1980.

Jean-Pierre Gaudin: From the „rue“ to the „route“. In: Casabella: Sulla strada/About roads, Nr. 553-554, 1989 

Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, orig. 1990.

Erwin Panofsky: Die Perspektive als symbolische Form (Bibl. Nr. 36). In: E. P.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin 1985 

Raymond Williams: Television. Technology and Cultural Form. London 1990, orig. 1975.