Tugendhafte Bilder


Beitrag für den Katalog  zur Ausstellung >Ansichtssache< im >Kunstraum Niederösterreich Wien< 28.3.–10.05.2008

Es lassen sich zwei epistemische Tugenden für den Umgang mit Bildern in der Gegenwart anführen. Die eine Tugend bemüht sich um eine Art Substanzlehre dessen, was Bilder sind; es ist der Versuch, den ontologischen Status der Bilder gegen ihre vermeintliche Nichtigkeit oder Falschheit zu bestimmen. Die andere epistimische Tugend erwartet eine Einsicht in die Wirkung der Bilder, in das Verhältnis von Bild und Betrachtung, von Bild und Kontext. Dieser zweite Vorsatz findet sich als eine Art Modallehre an vielen Orten zeitgenössischer Kunst wieder. Ich möchte beide Tugenden mit bestimmten „Ansichten“ von und aus Bildräumen zusammenbringen, was zur Voraussetzung hat, Raum als solchen zu definieren.


Es lassen sich zwei epistemische Tugenden für den Umgang mit Bildern in der Gegenwart anführen. Die eine Tugend bemüht sich um eine Art Substanzlehre dessen, was Bilder sind; es ist der Versuch, den ontologischen Status der Bilder gegen ihre vermeintliche Nichtigkeit oder Falschheit zu bestimmen. „Wir haben die Aufgabe, dem ‚Bild‘ seine Autonomie zurückzugeben und es vom Fluch zu befreien, für ein Ab-Bild, eine Re-Produktion, ein Konter-Fei gehalten zu werden. Glaubt man, ein Bild sei eine Wieder-Gabe und nicht eine Gabe, so bedankt man sich nicht für das Geschenk, sondern denkt an ein Bild von etwas, und es entstehen die Adjektive ‚ähnlich‘, ‚verzerrt‘, ‚gut‘, ‚schlecht‘, ‚wahr‘, ‚falsch‘ usw., so als ob man nicht nur wahr-nehmen, sondern auch falsch-nehmen könnte.“

Die andere epistimische Tugend erwartet eine Einsicht in die Wirkung der Bilder, in das Verhältnis von Bild und Betrachtung, von Bild und Kontext. Dieser zweite Vorsatz findet sich als eine Art Modallehre an vielen Orten zeitgenössischer Kunst wieder. Die Modalitäten einer rezeptionsästhetisch gelenkten und einer institutionskritischen Produktion demonstrieren die Notwendigkeit einer konsequenten und in vielen gesellschaftlichen Teilsystemen zurzeit praktizierten permanenten Selbstbefragung und Selbstreflexion. Nicht mehr werden Bilder oder andere Werke für sich hergestellt, sondern stets auch als Verweis auf ihre Abhängigkeit von kontextuellen Bedingungen bzw. als offene in der prinzipiellen Unabschließbarkeit ihrer Signifikationsprozesse.

Ich möchte beide Tugenden mit bestimmten „Ansichten“ von und aus Bildräumen zusammenbringen, was zur Voraussetzung hat, Raum als solchen zu definieren.

Ilja Jefimowitsch Repin, Unerwartet, 1884–1888, Tretjakow-Galerie, Moskau

Jemand öffnet eine Tür, eine Grenze wird durchlässig, zwischen zwei Zimmern entsteht ein Übergang, eine Passage für etwas Neues. Derjenige, der aus dem einen in den anderen Raum tritt, verändert den Raum. Verändert den Raum, so wie ihn die Anwesenden bisher erfahren haben. Sie haben ihn wahrgenommen als eine bestimmte Komposition aus vertrauten Elementen, von denen sie selbst einige ausbildeten. Nun erweitert sich diese Komposition um ein weiteres Element, und alle ergreifen mit ihrer Wahrnehmung dieses neue Phänomen. Plötzlich gewahren fünf Menschen einen Unterschied, der Hereinkommende bildet ein Intervall, eine Unterbrechung, eine Diskontinuität im System des Hauses, alle schauen auf ihn, in ihren neugierig überraschten Blicken vollzieht sich eine Aufnahme, ein Aufnehmen des neuen Körpers in die Singularität ihres Raumes, in das Beziehungsgefüge ihrer Wohnung. Eine Veränderung findet statt, die der Ort, also das Haus und seine sedimentierte Mannigfaltigkeit, zwar mit seiner eigenen Geschichte begleitet (die Bilder an der Wand, die Generationen der Wohnenden …), die aber wesentlich den Raum als solchen betrifft.

Zwei Räume

Der eine Raum, von dem wir Teil sind, ist maßlos, er ist total, ohne Richtung und Zentrum, ist diffus objektiv. Diesen Raum zu kennen, ist uns zunächst nicht möglich. Es ist eine Art „Raum an sich“, oder vielleicht doch eher eine „Immanenz“, die uns bloß vermittelt zugänglich ist. Wenn wir ihn beschreiben, so nur als Negation von uns. Denn unser Raum enthält Maße, er ist ausgedehnt und begrenzt, perspektivisch und klar, er kennt Orte und eine Mitte. Diesen eigenen Raum ergreifen, entnehmen wir dem immanenten Raum als ein „Intervall“, das wir als Wahrnehmung erfahren. Ein Intervall ist eine Unterbrechung, ist ein Unterschied. Es lässt sich sagen, dass die Wahrnehmung über den Raum verfügt, indem sie ein Zentrum ausbildet, zu dem hin die mannigfaltigen Sinneseindrücke sich (trans-)formieren. Der Wahrnehmungsraum ist eine Art erste Karte oder erstes Bild, Ergebnis einer Analyse der Unterschiede, die wir in der „Apprehension“ erfahren. Der Begriff folgt dem lateinischen prehendere, welches das Vermögen meint, mit dem geeigneten Organ ein Ding zu nehmen, es zu packen, zu ergreifen, es zu begreifen, zu verstehen und zu ordnen. Wahrnehmen ist also ein offensiver Akt, kein erleidendes, sondern ein formendes Vermögen. Nunmehr ist es möglich, Raum zu denken als Bestimmung der Unterschiede, durch die wir Beziehungen herstellen. Damit ist zugleich eine Differenzierung von Ort und Raum möglich. Während Orte auf Identität und Kontinuität verweisen, reklamieren Räume Unterschied, Veränderung und Diskontinuität.

Zwei Augen?

Der fotografische Raum korrespondiert mit dem Bildraum, der sich im optisch-physiologischen System der linearen Perspektive ausgebildet hat: Einem externen Blickpunkt – dem Kameraobjektiv – anverwandeln sich die reflektierten Lichtstrahlen eines Körpers zur zweidimensionalen Abbildung. Dieses Bildmodell der projektiven Geometrie kann selbstverständlich nicht mit den „natürlichen“ Bildern unseres Raumsehens identifiziert werden, wenngleich wir an die fotografischen Flächen selten eine Kritik ihrer – unräumlichen – Evidenzkraft richten. Wir unterstellen implizit eine Art isomorphe Struktur zwischen natürlicher und fotographischer Wahrnehmung. Was passiert nun, wenn tatsächlich eine Simulation, also eine präzise apparative Rekonstruktion unseres Sehens, versucht wird? Werden wir angesichts solcher Bilder vom Bild auf uns selbst zurückgeworfen, oder vernehmen wir umso bestimmter den tatsächlichen Eigensinn der Bilder?

Da der Wahrnehmungsraum sich vom fotografischen Raum durch seine über zwei Augenpunkte definierte weitwinkelige Aufnahme und Rahmung der Objektwelt unterscheidet – und in der Interferenz beider Bilder die Tiefe des Raumes sich optisch aufbaut –, kann eine erste Reaktion auf das einäugige Sehen der Fotografie die Konstruktion binokularer Kameraobjektive sein. Leistet die normale Fotografie mit dem einen perspektivischen Fluchtpunkt bloß eine „eindimensionale“ Bildgestalt (alle Bildinformationen verteilen sich konzentrisch um die zentrale Fluchtlinie), vermag die stereoskopische Fotografie mit zwei Fluchtpunkten eine „zweidimensionale“ Bildgebung zu erreichen: Zwei Bilder erweitern und konkurrieren einander zugleich.

Hat man einen entsprechenden Abzug vor Augen, ist die Überraschung enorm. Denn der Raum, den wir nun einsehen und der mehr oder weniger jenem Raumausschnitt entspricht, über den wir konventionell verfügen, zeigt mehr, als wir erwartet haben – beinahe ein Zuviel an Raum drängt sich uns auf. Wir sind frappiert von der offensichtlichen Formatierung unserer Wahrnehmung durch die gewohnt engen Ausschnitte der Gebrauchsfotografie und unser Vergessen darüber, wie umfassend groß und weit wir tatsächlich wahrnehmen. Resultat ist, dass unsere natürliche, auf einen Winkel von ca. 160° eingeübte Rahmung der Welt nicht die fotografische Simulation dieser Rahmung anzuerkennen vermag, ohne ihre unnatürlich gespenstische Größe und Weite abzulehnen. Der künstlich gewonnene Exzess an Raumproduktion wirkt auch deswegen unwahr oder enttäuschend, weil die einzelnen Objekte zu den Rändern hin stark verzerrt wirken und keine „natürlichen“ Proportionen mehr zeigen.

Und dann sind da noch die eigentümlichen Verdoppelungen der Dinge, ein jedes Ding hat zwei farbige Gestaltgrenzen, so als ob diese Welt in jedem ihrer einzelnen Elemente zweimal existieren würde. Natürlich ist diese scheinbar instabile Bildwirklichkeit bloß ein Hinweis auf ihre noch ausstehende gewünschte Erscheinung. Erst eine – weitere – Prothese, eine 3D-Brille, wird uns in die Lage versetzen, das Raumbild und seine Objekte nun genau so wahrzunehmen wie im Realen, nämlich als in einer ausgedehnten Tiefe sich staffelnde Körper. Da „‚Perspektiva‘ und ‚Perspectus‘, das Partizip Präsenz von ‚perspicere‘ im Lateinischen ‚durch etwas hindurchsehen‘ bedeuten, ist der Begriff der Perspektive von Anfang an ein strukturierender Relationsbegriff, der das Sehen als durch ein Medium vermittelt beschreibt“.  

Dieses Sehen vom Raum und seiner Tiefe bestätigt also die direkte Abhängigkeit unseres Raumes von Konstruktionsprinzipien, die als oder im fotografischen Bild alleine nicht anwendbar sind, es bedarf zusätzlich eines gleichfalls hergestellten „Organs“, einer Technik, um zu sehen. Wenn wir bisher fotografische Bildräume ohne eine solche Ordnung des Sehens wahrgenommen haben, so sicherlich auch als implizites Befürworten einer Ordnung des Bildes, die nicht natürlich sein will, sondern als eine willkürlich künstliche sich behauptet. Vielleicht wollen wir auch nicht erinnert werden, dass diese Bilder in der Außenwelt verbleiben, für und an sich, wir sie uns mit unserem (ap)perzeptiven Regelwerk stets nur temporär anzueignen verstehen. Somit kehren wir zurück zum Bild und schauen und erfreuen uns seiner Aussicht, seiner Verzerrungen und seiner farbigen Schatten.

Horizonte

Der fotografische Raum macht eine unerhörte Erfahrung, wenn sein Objekt, die Landschaft, eine Größe und Weite einnimmt, die ein Phänomen entstehen lassen, das es in dieser Objektwelt gar nicht geben kann, das sich ausschließlich als Unterschied begreifen lässt. Im Unterschied zu einem physisch-lokativ Vorgegebenen unterhält der Horizont exklusiv eine Beziehung zu denjenigen, die ihn sehen wollen. „Unterschiede sind ihrer Natur nach Beziehungen und daher nicht in der Zeit oder im Raum lokalisiert.“

Mit dem Horizont, der Horizontlinie eines Landschaftspanoramas gelingt dem Blick kein Ergreifen von Sinneinheiten mehr. Die subjektive Apprehension, also die Synthesis eines sinnlich Mannigfaltigen zu einer Vorstellungseinheit – sie scheitert, sie ist überfordert, nicht von einem Zuviel an Raum, sondern von einem Anderssein des Raumes. Gilles Deleuze hat davon gesprochen, dass es im Kino möglich ist, einer „totalen, objektiven und diffusen Wahrnehmung“ beizuwohnen, da seine „beweglichen Schnitte“ und „zeitlichen Perspektiven“ es ermöglichen, „objektive Prehensionen“ zu sehen, d. h. Bilder, die „für alle Punkte des Raums im Inneren der Dinge schon aufgenommen und entwickelt“ sind und also die Dinge als Bilder „aus sich selbst leuchten“.  

Dies trifft nun auch auf das fotografische Landschaftspanorama zu. Es ist die unendliche Vielfalt der Dinge im panoramatischen Bildraum, die den Betrachter ergreift und ihm entlang seiner eigenen Körperbewegung stets neue Variationen und Ansichten anbietet. Der Horizont ist genau jenes Element des Bildes, wo sich der Betrachter als „Indeterminationszentrum“ erfährt, als Akteur, der – unbestimmbar in seiner Beziehung zum Anderen des Raumes – sich selbst stets von Neuem entscheiden muss, welche seine Position ist, oder, was das Gleiche ist, wo entlang sich sein Sinnhorizont zeichnet. Niemand „erhört“ uns, wenn ein Panorama und sein Horizont uns mit uns selbst konfrontieren – wir sind allein gelassen mit unseren visuellen Entscheidungen und müssen die Welt stets von Neuem ordnen.

Wong Kar-wai, My Blueberry Nights, USA / Hongkong / China 2007

Jeremy hat in seinem Café auf Coney Island eine Überwachungskamera, sie zeichnet den Ablauf seines Arbeitstages auf, seine Normalität vor allem. Und dabei produziert sie einen „Kontrollüberschuss“. Denn für Jeremy sind die Aufzeichnungen auch Zeuge der Erzählkraft seines Raumes, er schaut sie sich immer wieder an und erfreut sich an den Mikrogeschichten, die sein Café mitproduziert und die seinen Alltag begleiten. Die Ansicht der Kamera genügt, um das Leben, das sich zwischen den Gästen und ihm abspielt, einzufangen, dabei verändern sich die Konstellationen unentwegt, die Geschichten werden andere, die Verhältnisse und Verhängnisse ebenso. Der Café-Raum ist gleichfalls eine Art Intervall, das die Gäste aus ihrer Kontinuität herausführt und für wenige Augenblicke zu (Selbst-)Darstellern ihrer Geschichten werden lässt. Und Jeremy nutzt diese seine Raumbilder zur Aussicht auf die mediale Selbsterzählung seines eigenen Lebens.