„Zeigt mir, wen ich begehren soll.“

Begegnung und Internet


In: (Hg.) M.R. mit Hilde Fraueneder und Karin Mairitsch: DATING.21 Liebesorganisation und Verabredungskulturen. Bielefeld: Transcript Verlag 2007, S. 11-24.

In zwei Schritten wird das Verhältnis von Verabredung und Netz untersucht, zunächst in einer kulturtheoretischen und ökonomischen Perspektive, sodann in einer Befragung der Medientechnik „Internet“. In einer Vielzahl aktueller Studien zu diesem Verhältnis nimmt eine genau Darstellung der „Eigenlogik“ des Netzes eine eher karge, periphere Rolle ein. Die Versuche, den Anderen zu „meinem Anderen“ (Barthes) zu machen, sind nicht nur gesellschaftlichem Wandel unterworfen, sondern auch den Induktionen der in diesem Wandel „eigenmächtig“ handelnden Medien, namentlich dem Internet. „Zeigt mir, wen ich begehren soll“, ist heute auch ein Dienst von Netzen.


Je größer und unübersichtlicher das Kollektiv, die Welt, je anonymer und partikularisierter der Einzelne, umso mehr bedarf es Techniken des Sichtbarmachens der Anderen und Techniken der Verabredung mit Anderen. Anders gesagt: Je massiver der Zwang zur Individualisierung (individere) im globalen Feld, um so dringlicher werden raffinierte Strategien der Teilung (dividere), des sich Sich-Mitteilens und des Sich-Treffens, werden subjektive wie politische Strategien temporärer Entindividuierung und Exteriorisierung, mit denen das Gemeinsame, das Zusammen wichtiger wird als das Alleinsein, die „konstruierte Selbstverwirklichung“ (Axel Honneth).

In dieser Bewegung übernimmt das Internet als Kollektivtechnik, also als eine Technik, die Kollektivbildungen unterstützt, den Entwurf eines weltumspannenden relationalen Raumes, der über unterschiedliche konnektive Techniken gegenseitige Wahrnehmung und Begegnung ermöglicht. Das Denken dieses relationalen Raumes steht dem Verständnis einer physisch-geographisch bestimmten Objektwelt entgegen bzw. geht davon aus, dass sich der ausgedehnte Behälterraum durch symbolische, mediale Raumtechniken zusehends auflöst und als Erfahrungsraum sekundär wird, während der sozio-mediale Raum für die Individuen progessiv anwächst und eine Vielzahl auch neuer und notwendiger Beziehungen ermöglicht.

Für Datingnetze ist zu beobachten, dass die Sehnsucht nach Kontakt auch eine nach der realen, der körperlichen Begegnung, der tatsächlichen Sichtbarkeit, Wahrnehmbarkeit und Austauschbarkeit mit dem Anderen ist. Die Zeichen und Informationen haben die Dinglichkeit der Waren überformt und ersetzt, nun sind es wiederum die Körper der sich verabredenden Menschen, die die Information, das Zeichen überwinden und in den Genuss des „Realen“ kommen wollen.

Ich werde im Folgenden in zwei Schritten das Verhältnis von Verabredung und Netz umkreisen, zunächst in einer kulturtheoretischen und ökonomischen Perspektive, sodann in einer Befragung der Medientechnik „Internet“. In einer Vielzahl aktueller Studien zu diesem Verhältnis nimmt eine genau Darstellung der „Eigenlogik“ des Netzes eine eher karge, periphere Rolle ein. Die Versuche, den Anderen zu „meinem Anderen“ (Barthes) zu machen, sind nicht nur gesellschaftlichem Wandel unterworfen, sondern auch den Induktionen der in diesem Wandel „eigenmächtig“ handelnden Medien, namentlich dem Internet. „Zeigt mir, wen ich begehren soll“, ist heute auch ein Dienst von Netzen.

1.

Die neue psycho-ästhetische Medialität der Verabredungskulturen der Gegenwart gründet in dem historischen Verständnis der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform als einer expansiven Kultur der Verabredung und Begegnung mit Fremden, Anderen. Die Politiken der bürgerlichen Gesellschaft haben seit dem 17. Jahrhundert mit Humanismus und Aufklärung die Beziehungen zwischen den Ethnien, den Geschlechtern und Klassen sukzessive egalisiert, sie in Wahlbeziehungen überführt, also sie von Prinzipien der Gleichheit und Gemeinschaft aus versucht zu demokratisieren. Dieserart werden völlig neue Sichtbarkeiten und Kontaktnahmen auf und zu den jeweils Anderen möglich, die Wahrnehmung ist nun weniger ständegesellschaftlich als von subjektivem Interesse, von Neugierde und Begehren geleitet. Die Verabredungsmodalitäten selbst werden umfassend säkularisiert. Die Orte der Begegnung mit Gott und weltlicher Herrschaft werden um Orte der Begegnung der Menschen untereinander und mit dem gesellschaftlichen Geschehen ergänzt und in der Folge substituiert. Die auf diese Weise implementierte Kultur der Öffentlichkeit war und ist stets auch eine der Verabredung mit dem unbekannten Anderen, dem Andersdenkenden.

Das vielleicht zentrale Movens dieser Multiplikation und Diversifikation an Begegnungen ist das nunmehr ubiquitär etablierte Existenzmodell der Individualisierung, also das Entlassen des Einzelnen in „eine Einsamkeit der Selbstverantwortung, Selbstbestimmung und Selbstgefährdung von Leben und Lieben“. (Beck/Beck-Gernsheim 1990: 13) Das aus Hierarchien und Traditionen entbundene Individuum ist aufgefordert, seine sozialen Gefüge völlig autonom, in hoher Eigenleistung und in Abgrenzung und Anerkennung von Alteritäten zu organisieren. Wenngleich selbstbewusst und um einen inneren Kern kreisend, so doch in exzessiver Weise nach außen, in ein Außen geworfen, werden die für die eigene Position, das eigene Leben notwendigen Beziehungen organisiert. Es bleibt jedoch uneindeutig, ob diese Deregulierung und Exteriorisierung im Feld der Individuierung nun nicht auch die Zwangssuche nach neuen Motiven und Objekten des Zusammenkommens und Zusammenlebens provoziert hat.

Medien haben in dieser neuen Kultur der Sichtbarmachung, der Konfrontation mit und der Suche nach dem Anderem eine prägende und prägnante Rolle gespielt. Der Briefverkehr, die Zeitungen, dann das Kino, das Telefon, Fernsehen und Internet, sie alle haben Begegnungen induziert, sie ermöglicht, vervielfältigt und verfeinert. Sie haben nicht nur die Wunschbilder eines bestimmten Anderen mitentworfen, sondern auch den unerwarteten, ungedachten und vielleicht auch unerwünschten Anderen mitgenommen und vorgeführt. Die Verabredung, die ich absichtsvoll mit dem Aufschlagen einer Zeitung oder dem Einschalten eines Radios eingehe, ist stets auch eine mit fremder Fremdheit, deren Wahrnehmung und Kenntnis von mir erwartet wird. Zunächst machen sich diese medialen Konnektionen als symbolische Begegnungen erfahrbar, in der Folge werden sie aber auch Instrumentarium für das leiblich-soziale Begegnen.

In der historischen Perspektive ist es unklar, ob die Medien die selbstbestimmte Suche und den Umgang mit dem Anderen nur rahmen und verstärken oder aber bereits Indiz dafür sind, dass hier auch eine neue „Not“ sich bemerkbar macht. Die Angst, in der Anonymität der modernen Gefüge, im Getriebe der Arbeit und Verwaltung zu „verschwinden“, unsichtbar zu werden, verlangt nach neuen Techniken der Kommunikation und der Verabredung, die zugleich neue Bedürfnisse, Entlastungen und Abhängigkeiten entstehen lassen.

Die Ware und ihre Käufer

Dass die Menschen als Individuen „frei“ zirkulieren und ihre Kontakte ebenso frei wählen können, ist wohl auch im Zusammenhang damit zu sehen, dass die Waren der neuen Ökonomie zu Beginn der Industrialisierung aus der Logik des Kapitals heraus frei zu zirkulieren beginnen. Die kapitalistische Ökonomie hat die Verabredung für ihre Zwecke und mit den ihr eigenen Widersprüchlichkeiten konzeptualisiert. Die Produktion produziert nicht nur eine Ware für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für die Ware.  Die Produktion produziert daher gleichermaßen die Konsumtion, indem sie die Weise, die Modalität der Konsumtion bestimmt. Diese Weise ist heute und modern gesprochen das „Display“. Von den Schaufenstern der Passagen über die Werbung in den Medien bis hin zur Internetseite von Ebay werden die Waren ausgestellt, sind sie auf der Suche nach ihren Käufern bzw. erzeugen allererst ein Bedürfnis für sich, erzeugen ein Konsumenten-Subjekt. Die Ware verabredet sich mannigfaltig mit den Konsumenten. Die Verabredung ist Teil ihrer Produktion. Das Display inszeniert die Ware und evoziert damit ein Bedürfnis nach ihr. Das heißt, die Ware verabredet sich nicht mit einem bereits existierenden Käufer, sondern diesen Käufer stellt sie idealiter über ihre Inszenierung erst her. Diese Struktur der Verabredung: sich mit jemandem verabreden, den man nicht kennt, also sich verabreden mit dem Unbekannten, auch mit dem Zufall, diese Logik der Begegnung soll in der Folge systematisiert und auf die mediale Begegnung übertragen werden.

Marx hat hierzu in den „Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie“ die maßgeblichen Spuren gelegt; ich möchte sie wiederaufnehmen und mit dem Netz – als einer besonderen Produktionsform – parallelisieren. Auf diese Weise soll dem m.E. allzu raschen, kritischen Verweis auf die „Kommodifizierung des Selbstseins“ (Illouz 2006: 160 ) der Nutzer von Datingseiten in der Verschränkung von Netz- und Marktlogik eine andere Perspektive gegenübergestellt werden.
Das Beziehungsmodell der Moderne ist für uns wesentlich eines, das sich „in“ Gesellschaft manifestiert, sich also gesellschaftlich aktualisiert, in einem selbstgewählten sozialen Außen ereignet, das die Geschlechter zusammenführt, sie zusammenkommen lässt an für das Ereignis vorausbestimmten Orten, sozialen Räumen, mit denen die Individuen sich darstellen, zeigen, aufeinander zu sich bewegen und begegnen, daher also: gesellschaftliche Induktion der Individuen als Liebende.  In der Gesellschaft des Netzes, im Medial-Sozialen des Internet evolvieren sich-anbietende, suchende, wählende, also begehrende Individuen, als solche werden sie vom Sozialen des Netzes angesteckt, hervorgerufen. 

Das Netz produziert das In-Beziehung-Setzen von Individuen in seinen medialen Formen. Wesentlich ist, dass diese Beziehungstechniken von Anbeginn an die Faszinationen für das Netz begleiteten. Von den frühen Adventure-Games der MUDs und MOOs über die Messaging-Boards, Chatrooms, Mailing-Listen bis hin zu Weblogs, P2P-Techniken und Avatarwelten offeriert das Netz die vielfältigsten Verabredungs- und Begegnungsszenarien. Die Datingmaschinen sind also nur ein Sonderfall dieser sozialen Logik, der Produktion von Verhältnissen im Internet.  Diese Produktion folgt einer dreifachen Bewegung: Sie stellt den Gegenstand für die Begegnung her: Adressen, Orte im Netz, an denen die Anwesenheit von Suchenden konfiguriert wird. Sie legt die Modalitäten fest, die Weisen, wie diese aufeinander zugehen können, sich gegenseitig wahrnehmen und miteinander ins Gespräch kommen können. Und sie bewirkt selber, ja mehr noch, sie ruft allererst ein aus dem medialen Gefüge geborenes Begehren nach dem oder der Anderen hervor.  Dieser letzte wesentliche Punkt hat sein Korrelat in der Konsumtion, also im Gebrauch, im Verwenden des Netzes. Dieser Gebrauch produziert gleichfalls, er setzt die Beziehungssuche, das Sich-an-andere-anschließen-Wollen, „ideal […], als innerliches Bild, als Bedürfnis, als Trieb und als Zweck“ (Marx 1974: 13). Die „Identität von Produktion und Konsumtion“ ist, so Marx, die Voraussetzung für die Ausbildung eines „Subjektes für die Ware“.

Die Individuen werden in ihren Netzakten nicht nur überformt von einer Marktlogik, die Verdinglichung impliziert, und einer Psychologie, die Eigenschaften objektiviert. Zuallererst werden sie ihre Begehrnisse in eine besondere Modalität der Suche einlassen, die sich in dem Wunsch manifestiert, das Netz möge diese Suche selbst anleiten. Sie folgen nunmehr einem medial gelenkten Begehren, das nicht abzutrennen ist von der Eigenlogik des Mediums. Die Individuen werden zu Subjekten derjenigen Beziehungsformen, die das Netz aus sich selbst heraus produziert. Die Wahrnehmung einer möglichen Vielfalt an Beziehungsanbahnungen im Netz lässt erst ein Begehren nach genau diesen Weisen der Begegnung entstehen bzw. erzeugt ein Subjekt, das diesem Begehren folgt. Das Netz „produziert daher Gegenstand der Konsumtion, Weise der Konsumtion, Trieb der Konsumtion“ (Marx 1974: 14), es schafft sich ein beziehungsfähiges Publikum. 

Marx hat diese Überlegungen, vielleicht überraschend, entlang der Produktion/Konsumtion von Kunst ausgeführt: „Der Kunstgegenstand – und jedes andere Produkt – schafft ein kunstsinniges und schönheitsgenußfähiges Publikum. Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand.“ (Marx 1974: 14) Der Sinn für die Vorhandenheit eines Werks und sein Genuss werden also wesentlich von diesem Werk, diesem Gegenstand selber angeleitet, ja, diese erschaffen allererst jene Wahrnehmung, jenes Verstehen und Genießen, das sie für diese ihre Vorhandenheit und ihren Telos auch notwendig brauchen. Sie wollen gesehen und gekauft werden und in der Verabredung als (waren)ästhetische Begegnung kreieren sie ihr Publikum und ihren Käufer mit. Béla Balázs hat diese Dynamik für die Entwicklung des Kinos untersucht und auf die neue „optische Kultur“ verwiesen, die mit den Kino-Subjekten sich etablierte: „Wir wissen es gar nicht mehr, wie anders wir in diesen Jahrzehnten sehen gelernt haben. Wie wir optisch assoziieren, optisch denken gelernt haben, wie geläufig uns optische Abkürzungen, optische Metaphern, optische Symbole, optische Begriffe geworden sind.“ (Balázs 1979: 210) Im Folgenden werden die Beziehungskräfte des Internet im Zusammenhang mit den Datingtechniken herausgearbeitet.

2.

Das Internet war in seinem Ursprung als essentiell stabil vorausgesetzt. Das Netz sollte nicht als hierarchische Informationsstruktur mit Zentrum und Peripherien arbeiten, sondern die Verbindungsmenge war aufgeteilt auf die als Netz zusammengeschlossenen Rechner. Diese sollten untereinander völlig gleichwertig, als gleiche kommunizieren, sich austauschen. Wenn also das Netz an einer Stelle ausfiel, musste es den Rechnern gelingen, sich eigenständig einen anderen Weg zu suchen, ihre Kommunikation aufrechtzuerhalten, indem die Wege, die Verhältnisse zwischen den Rechnern neu gelegt wurden. Die Übertragung der Daten war – im Gegensatz zur Radio- und Fernsehübertragung – als egalitäre Struktur aller Rechner definiert. Dass dieses innovative „Verhalten“ jedoch von der militärischen Logik, die das Netz in Auftrag gab, in der Folge als unsicher und unzuverlässig abgelehnt wurde, folgt dem Systemzwang der Institution, eine absolute Kontrolle über ihre Verhältnisse ausüben zu müssen. Tatsächlich war die Stabilität des Netzes nur über seine prinzipielle Deregulierung und Unkontrollierbarkeit zu haben. „Das“ Netz gab es nie, stets nur einen offenen Verbund an Rechnern, die gemeinsam das Netz ausbildeten, es bereits in seiner technischen Struktur als relationalen Raum definierten.

Als die ersten Protokolle, das TCP und das IP, entworfen waren, zirkulierten die digitalen Daten zwischen den Rechnern beliebig hin und her. Nicht nur konnten einzelne Datenpakete zum Zwecke der Kommunikation verschickt werden, es war auch möglich, Datenwelten zu generieren, die, auf einem Server angelegt, von den angeschlossenen Rechnern „besucht“ werden konnten. Diese Datenwelten können auch als spezifische Netzterritorien oder Orte im Virtuellen der Rechner eingesehen werden. Dritte Orte, Orte zwischen den Rechnern, Orte in den Rechnern. Die User dieser Rechner können an diesen Orten sich über die dort angelegten Daten informieren, sie weiter verwenden oder aber in diesen Datenwelten eine temporäre Existenz annehmen und dort über Schrift, später über Bilder und Avatare, miteinander sich austauschen. Diese Orte, sie werden unterschiedlich benannt: Homepages, Websites, Domains. Klar ist, dass ein jeder Ort einen Aufenthalt ermöglicht, eine Bewegung „an“ ihm, mit den in ihm angelegten Daten.

Dritte Orte

Diese Entwicklung des Internet macht aufmerksam auf die von ihm etablierte relationale Territorialität, auf soziale Ortsgründungen. Tatsächlich ist das Netz auch eine Menge von Adressen, also von adressierbaren Daten, die als „domains“, also – im Vergleich zur puren Übertragung – als Reterritorialisierung beschreibbar sind. Die Daten befinden sich auf Festplatten von Servern, deren eigener Standort für das Nutzen der Seiten allerdings unerheblich ist. Die Adressierung ist eine Anrufung der Daten auf das je individuelle Interface.  Auf meinem Rechner versammeln sich die Orte und von hier aus nehme ich teil an ihnen. Das Internet ist eine nach oben hin offene Menge an Adressen, an Orten. Das Netz selber ist der Ort all dieser Orte. Das heißt, die Summe aller aktuell arbeitenden Server bildet einen Ort aus, der Millionen von individuellen Orten enthält. Man kann das Internet heute grob einteilen in jene Orte, die ausschließlich auf Sichtbarkeit angelegt sind, also auf die Präsentation von Daten, Informationen – und in solche, die auf Teilnahme, auf ein Zusammenspiel hin entworfen sind und die eine verkörpernde Sichtbarkeit, eine Repräsentation, ein Double-Sein des einzelnen Users innerhalb des Ortes, der Seite erwarten. Diese Transfigurationen können unterschiedliche Gestalt annehmen, vom Nickname im Chatforum über die Profile auf Datingseiten bis hin zum Avatar in Spielen. Eine Dating-Plattform ist gleichfalls ein solcher Ort, an dem sich Menschen transfigurativ versammeln – um sich kennenzulernen.

Die vielleicht wichtigste Erfahrung, die an diesen Netz-Orten möglich ist, ist die der Teilung, des Teilens. Das Medium an sich ist auf Teilen angelegt. Das deutsche Wort „teilen“ umschließt zwei völlig konträre Bedeutungen, die jedoch strikt aufeinander verweisen. Für ein Verständnis der Datenstruktur – als numerische und übertragene – ist dies von Vorteil. Aber auch für das Wissen um die großen Veränderungen im sozialen und politischen Gefüge der Gegenwart. Das Lateinische, Englische und Französische sollen zunächst die Unterschiede herausarbeiten helfen. Teilen meint zweierlei, einmal dividere/diviser/divide, zum anderen participere/partager/share. Das Digitale ist das Ergebnis einer Operation der Teilung eines körperlich oder medialen Ganzen in die numerischen Werte 0 und 1. Diese Aufteilung und Trennung in zweiwertige Partikel, Bits, ermöglicht die Erzeugung einer numerischen Materie, die – gemäß ihrem Status als techno-symbolisches Äquivalent – alle anderen Körper-, Bild-, Ton-, Schrift-Materien aufnehmen und also vergleichbar und ineinander konvertierbar machen kann. Dieses Teilen als Partialisieren dominiert und überformt auch die Anwesenheit eines Users im Netz, seine Verwendung/Konsumtion von Social Software. Er muss sich, um teilnehmen zu können, in ein Geteiltwerden einlassen, sei es indem ein Profil mit Teilmengen seiner Persönlichkeit erstellt wird, sei es, dass er in einem Chatroom nur als schriftliche – als semiotisch partialisierte – Person aktiv sein kann, sei es, dass er als Avatar vielleicht bunt und exzessiv ein Auftreten haben kann, doch eben nur als Erscheinung und Animation einer rein bildlichen Figur.

Dennoch ist die Partialisierung die Voraussetzung dafür, dass der User partizipieren kann, dass er sich anderen mitteilen, mit ihnen eine Gemeinsamkeit teilen kann, dass er sich ihnen assoziieren und teilnehmen kann an einer Gemeinschaft. Ohne Division keine Assoziation, ohne Partialisierung keine Partizipation. Man kann diese doppelgesichtige Teilung auch als sozialer Effekt eines techno-imaginären Gegen-Willens zur Individualisierung begreifen, also als Relativieren des Ungeteilt-Seins, als temporären Verzicht auf den „Selbstzwang zur Standardisierung der eigenen Existenz“ (Beck/Beck-Gernsheim 1990: 15), denn Schematisierungen und strikte Vereinheitlichungen ermöglichen ja erst eine in sich stabile und kohärente Identität.

Diesen Teilungsprozess werde ich nun auf der semantischen Ebene der Datings präzisieren. Zunächst werden über die Profile Eigenschaften und Präferenzen der Anwerber und Anwerberinnen als autonome Raster objektiviert. Auf der Basis dieser Parzellierung des Individuums erfolgt das matching, also die automatisierte Auswahl und das In-Beziehung-Setzen von möglichen Partnerinnen, Partnern. Dann beginnt die Teilnahme. Ich teile mich mit, zunächst in Form eines Textes, einer Korrespondenz mit Mails, also medial als „freie“ Schrift (die der standardisierten Textualität der Profile entgegengesetzt ist). Dann als Telefongespräch, wo ich nun bereits wesentlich körpernahe, wenngleich auch nur teilsinnlich, mit meiner Stimme der Stimme des Anderen begegne und mich sprachlich austausche. Dann, und darauf läuft ja jeder Dating-Akt hinaus, indem ich mich verabrede, indem ich also die Bereitschaft habe, mich der Teilnahme nun auch körperlich oder „holistisch“ zu stellen und mein Geteiltsein wieder aufzuheben. Damit ermöglicht das Internet-Dating eine Aufhebung des in den technischen Medien scheinbar universell angelegten Verbots des noli me tangere. Gerade die körperliche Berührung ist ja das erhoffte Ziel der elektronischen Kontaktnahme.

Die Anwesenheit „im“ Datingnetz selbst ist stets eine subsidiäre, ist eine, die auf eine Fragmentierung der Userin, des Users aufbaut: er/sie ist stets nur partial sinnlich „dort“, als Text, als Foto, vielleicht als Film, jedenfalls als inszenierte Transfiguration. Stets nur ein Teil von einem Selbst kann sich zeigen. Dennoch nimmt dieser Teil dann Anteil an dem, was vor Ort passiert, ja, er teil sich Anderen, die gleichfalls nur als Teile anwesend sind, so mit. Das bedeutet, das, was passiert, ist eine Inszenierung und ein Tausch von Teilen, ein Austausch von Ansichten. Und genau diese Ansichten vermögen das besondere mediale Begehren hervorzurufen und über dieses die medialen Subjekte selbst zu formieren. Es ist offensichtlich, dass der letzte Akt in diesem Prozess, der Prozess der Wiederverkörperlichung, nur über die ursprüngliche Teilung möglich ist. Und zugleich wird es so sein, dass ich die Andere, den Anderen und ihr, sein doppeltes – technisch-semiotisches – Geteiltsein auch nach dem „wirklichen“ Treffen stets als ein solches wahren werde. Nicht sollen, wie bei Platon im „Symposion“ imaginiert, die Teile wieder zueinander finden, um „aus zweien eins zu machen“, um eine romantische Ganzheit zu bilden, sondern diese sollen Teile bleiben, sollen ein jeder für sich anerkannt sein: Eine adifferente Beziehungskultur auf der Basis einer indifferenten Technik. Adifferenz meint, dass es keine Symmetrien und keine Aufhebung der Unterschiede in einem Gemeinsamen gibt, sonderen die Teile als solche, als singuläre Bestand haben und fortwirken.

Mit der über das Teilen herbeigeführten temporären Entindividuierung wird, so die Vermutung, eine Beziehungskultur verfeinert, die vom Verzicht auf die einzig mögliche Partnerschaft, auf die totalitäre Liebe eines ganzen Menschen getragen wird. Sie wird weniger die Selbstbestimmung in der Beziehung als den Selbstwandel propagieren, das heißt, das Sich-Einlassen auf die ganz notwendigen Verwandlungen, die ein Mensch in der Zeit durchlebt. Das Begehren wird ein partiales bleiben, eines, das den Augenblick über das Kontinuum, die Vielheit über die Einheit, die Ansicht über die Aufsicht, das Relationale über das Differente, das Transfigurative über das Identitäre, das Mögliche über die Bedingung stellt.

Es ist unverständlich, warum die Kritik am Dating an dieser Vielschichtigkeit der medialen Begegnungen vorbei sieht. Der rationalisierte Modus der Partnerwahl, die nach psychologischer Standardisierung evaluierte „eigenschaftsorientierte Objektwahrnehmung“, sind sie wirklich nur ein Phänome der Online-Begegnung?  Kann die „unerwartete Epiphanie“ nicht auch beim Anschauen von Fotos, beim völlig regelfreien Schreiben von Mails, beim Telefonieren sich ereignen? Und vielleicht stellt sich ja die erwünschte „Interesselosigkeit“ gerade mit einer „Ökonomie der Fülle“ ein?

Eigentlich steht die Kritik von Eva Illouz an der Ökonomie der Fülle, also an dem Überangebot an Partnerinnen und Partnern, dem an den einschlägigen Orten die Einzelnen ausgesetzt sind, in eigentümlicher Diskrepanz zu jener zu Beginn des XX. Jh. von ihr untersuchten Einführung des Rendez-vous, das in der konsumistischen Außenwelt und an „modernen“ Orten wie Auto, Kino, Tanz und Restaurant vor allem einer ebensolchen Ökonomie zuarbeitete: „Indem die Verabredung aus den engen häuslichen Grenzen in die öffentliche und anonyme Sphäre der Vergnügungen verschoben wurde, erweiterte das Rendez-vous den Pool verfügbarer männlicher Partner.“ (Illouz 2003: 70) Vielleicht haben ja gerade die öffentlichen Versammlungen der Geschlechter in Kinos, Tanzstätten und eben heute in Datingforen – die ja allesamt eine „öffentliche Inszenierung des privaten Selbst“ (Illouz) vorsehen – genau jene geschlechtliche Begegnungsvielfalt und  gleichheit für die Wahrnehmung ermöglicht, die im „all men are equal“ ja schon seit langem etabliert war, dessen Konsequenzen vor allem für die Wahlbiographie der Frauen von den Männern allerdings zumeist ignoriert wurden.  Und vielleicht impliziert ja die Erfahrung von Fülle, dass es gerade den einen, die eine „Richtige“ gar nicht geben kann?

Jedenfalls ist das Internet eine mächtige Kultur des Teilens, eine Kultur des Sich-Partialisierens in körperlicher, ästhetischer und semiotischer Weise. Und des Partizipierens in unterschiedlichen Formen, vom einfachen Nehmen und Geben in Filesharing-/P2P-Systemen, vom Lesen von Blogs und Anschauen von Pornoseiten (und also auch dem vermutlich direkten körperlichen Reagieren), bis zum intensiven und möglicherweise hoch-spezialisierten Austausch in Mailing-Listen oder aber auch in flickr und in Parallelwelten, wie etwa Second Live.

Dass sich über dieser Primärökonomie eine zweite versucht zu etablieren, ist ein Effekt der Epoche, nicht des Mediums. Man zahlt zumeist in Dating„börsen“, um andere zu treffen. Beziehungsweise um einen Dienst in Anspruch zu nehmen, der Erfolg verspricht. Und Illouz hat sicherlich Recht zu betonen, dass sich die „Kommodifizierung des Selbst“ in Allianz mit der Psychologie als autoritäre Machttechnik einem „emotionalen Kapitalismus“ andient. Doch dieser „Service“ hat nur sekundäre Bedeutung. Das Geld ist nun mal „der Kuppler zwischen dem Bedürfnis und dem Gegenstand, zwischen dem Leben und dem Lebensmittel des Menschen“ (Marx 2004: 131). Diese „alllgemeine Hure […] verkuppelt Unmöglichkeiten“ bzw. alle jene Partikel, die sonst vielleicht nie zueinandergefunden hätten. Das Internet als eine in der Gegenwart primäre Produktivkraft für das Beziehungsgeschehen der Menschen agiert zwischen Verdinglichung und Selbstbestimmung gemäß dem Prinzip der Teilung, der gewollten Teilung. Dating-Maschinen bringen das auf den Punkt: Es geht um eine partielle Anwesenheit, um ein Sich-Mitteilen und Austauschen, dann um eine Wiederversinnlichung der Körper mit dem Ziel, das eigene Leben mit jemand Anderem – teils – zu teilen, den Anderen, in der wunderschönen Formulierung von Roland Barthes, zu „meinem Anderen“ zu machen. Das mediale Begehren, das sich im Teilen und in der Fülle artikuliert, wird im Realen nachwirken und vermutlich verhindern, dass die Andere, der Andere im Wunschbild holistischer Wahrnehmung erfahrbar werden. Jeder Einzelne bleibt eine unkalkulierbare Menge an – teils erkennbaren und kommunizierbaren, teils unerkennbaren und verschwiegenen – Teilen, Singularitäten.

Teilen. Tauschen. Im Französischen nennt sich eine bestimmte Praxis der Liebe l’échangisme. Also Praxis des Teilens, Partnertausch, sich sexuell mitteilen, gleich wem. Diese Zugabe betont besonders das Englische swinger, hier wird die Andersartigkeit betont, das Umschwingen, das in eine andere denn konventionell vorgesehene Richtung sich schwingen. Ende der 90er Jahre trifft Michel Houellebecq eine traurige Aussicht: „Ich bin jedoch nicht allzu optimistisch: Der Partnertausch scheint mir nur geringe Überlebenschancen zu haben, die heutige Zeit eignet sich dazu nicht mehr.“ (Houellebecq 2003: XV/XVII). Vielleicht weil die Körper sich „verschoben“ haben. Das Textuelle, das Fotografische, die virtuellen Repräsentationen dienen ihnen heute im Netz der Anbahnung, der Begegnung, dem Tausch – und dieser Tausch ist zweifellos in seiner Struktur libertinär. Libertinäre Orte.

Literatur

Balázs, Béla (1979): „Zur Kunstphilosophie des Films“. In: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam, S. 204-226.
Barthes, Roland (1984): Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/M.: Suhrkamp [1977].
Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (1990): Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Bühler-Ilieva, Evelina (2006): Einen Mausklick von mir entfernt, Marburg: Textum Verlag.
Houellebecq, Michel (2003): „Cléopatre 2000“, deutsche Übersetzung Uli Wittmann. In: Thomas Ruff, Nudes, München: Schirmer/Mosel, S. XV/XVII.
Illouz, Eva (2003): Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt/M.: Campus [1997].
Illouz, Eva (2006): Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Adorno-Vorlesungen 2004, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Marx, Karl (2004): „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“. In: Karl Marx, Friederich Engels, Studienausgabe Band II. Politische Ökonomie, Berlin: Aufbau [1844], S. 38-135.
Marx, Karl (1974): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin: Dietz [1857–1858].
Simmel, Georg (1992): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt/M.: Suhrkamp [1908].