Überlegungen zu einer Kartographie des Unsichtbaren

Stadterfahrung und Internet


Vortrag im Rahmen der internationalen Konferenz "Negotiating Urban Conflicts", Institut für Soziologie der TU Darmstadt, 7.-9.4.2005 und im Rahmen der Architekturtage 3 „Stadt Leben“, Kunstverein Ingolstadt, 30.4.2005. In: Helmuth Berking, Sybille Frank, Lars Frers u.a. (Hg.): Negotiation Urban Conflicts. Interaction, Space and Control. Bielefeld: Transcript, S. 167-175.

In einem ersten Teil wird die Verschränkung moderner, konfliktreicher Stadterfahrung mit dem Nichtsichtbaren, dem sich gegenseitig Unsichtbarsein von Stadtteilen und Bewohnern und dem Unsichtbaren urbaner Differenzierungen untersucht. In einem zweiten Teil werden in einer historischen Perspektive unterschiedliche Luminierungstechniken besprochen, die Orientierung im Unsichtbaren versprechen. Im dritten Hauptteil wird dann das Internet als eine solche Technik der Sichtbarkeit, werden Stadtrepresenationen im Netz als mediale Performanz des Urbanen und ihre Konfliktbewältigung analysiert.


1.

Die moderne Stadt ist der zentrale Austragungsort aller Antriebskräfte der Neuzeit. Unsichtbarkeit ist einer ihrer wesentlichsten Eigenschaften, sie ist zugleich Motor und Effekt städtischer Entwicklung. Einige Unsichtbarkeiten will ich kurz skizzieren: Mit dem Zustrom immer mehr Menschen in die Städte kommt es zu städtebaulichen Verdichtungen, zu Peripheriewucherungen, aber auch zur Gründung neuer, nach anderen planerischen und sozialen Gesichtspunkten gestalteten - namentlich - Industriestädten, die aufgrund ihrer Größenverhältnisse vom Einzelnen nicht mehr einsehbar sind. Man kennt und befährt andere, entferntere Stadtteile nicht, hat bloß eine diffuse Ahnung der Größe und Dichte, vieles bleibt unbekannt, unvertraut. Diese Erfahrung ist eine der gebauten Unsichtbarkeit.

„Die Inklusionsform der Moderne bringt [...] auch eine spezifische Form der Unsichtbarkeit hervor, die sich in der strukturellen Fremdheit der Stadtbewohner untereinander ausdrückt“ , schreibt Armin Nassehi und formuliert damit eine Grundambivalenz der Moderne. 1 So werden beispielsweise in der Schaffung von Großräumen – repräsentiert in Bahnhöfen, Einkaufsstrassen und Malls, Stadien und Parks, die ein Nebeneinander, eine Koexistenz völlig unterschiedlicher Menschen bedingen – keine Szenarien des Miteinanders, der Teilnahme, der Koinzidenz eingeplant. Diese soziale Unsichtbarkeit ist Ursache endloser Spannungen, Ängste und Phobien, ausformuliert etwa in den beiden sozio-architekturalen Extremfiguren der Gated Communities einerseits, der Slums andererseits. (Allerdings kann für manche das Fremde und damit auch die eigene Fremdheit eine von anderen Lebensformen nicht erreichte Qualität des Städtischen sein.) Städte verleihen dem Kapital ein Gesicht. Die Abstraktheit und Qualitätslosigkeit des Geldes, des Äquivalenten findet im ausgestellten Überfluss der Handelszentren, im Maßlosen der Shops und Malls zu einer ungewöhnlichen Sinnlichkeit. Dennoch ist die inszenierte Ware zugleich Indiz für Kräfte, die dem Individuum unverständlich bleiben. Hinter dem Schein der Warenwelt pocht das unsichtbare Regelwerk der Akkumulation, der Kapitalmärkte. Als letzte Unsichtbarkeit möchte ich die der politischen Mächte und ihrer Institutionen nennen, der Verwaltungsapparate, die ab der Gründung der Nationalstaaten ihr Unbild des bürokratischen Molochs pflegen. Das Leben ist ein von unsichtbaren Kräften verwaltetes.

Mit dem Unsichtbaren, dem Nichtsichtbaren verbunden ist eine andere Größe des modernen Stadtlebens, das Geheimnisvolle. Georg Simmel verweist darauf, dass das „Geheimnis – das durch positive oder negative Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten - ... eine der größten geistigen Errungenschaften der Menschheit“ ist. „Das Geheimnis bietet sozusagen die Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren, und diese wird von jener aufs stärkste beeinflußt.“ 2  

Zu Beginn neuzeitlicher Stadtentwicklung unternimmt Leibniz den Versuch, die Stadt in sein philosophisches System zu ziehen, um den in diesem angelegten Qualitäten eine erfahrbare Korrespondenz in der Realwelt zu sichern. In der „Monadologie“ wird die Stadt als Sinnbild für die Existenz verschiedener, vielfältiger Universen eingesetzt: „... ein und dieselbe Stadt, die von verschiedenen Seiten betrachtet wird, (erscheint) als eine ganz andere ... (Sie ist) gleichsam auf perspektivische Weise vervielfacht.“3   Das Bild einer solchen Stadterfahrung ist möglicherweise in der „kubistischen Stadt“ am anschaulichsten grundgelegt. Ein solches Bild, etwa Robert Delaunay´s „Simultanfenster aus der Stadt“ von 1912, erfreut sich an der Auflösung des gerichteten Blicks, des Versprechens nach Übersicht und Ordnung, es ist ein direktes Abbild des in der Moderne konstitutiv angelegten Entzugs an Orientierung im Lebensraum, des Auszugs aus Tradition, des Einzugs in Kontingenz im Weltinnenraum. Das Bild feiert Komplexität und Unübersichtlichkeit, affirmiert Entgrenzung und Destabilisierung. Die Vielfalt an Perspektiven einer Stadt, also das Gewahrwerden ihres „geheimnisvollen“ Eigenlebens, machen es für den einzelnen Bewohner unmöglich, die Stadt als ein Ganzes einzusehen. Viele Teile der Stadt – ob tatsächlich Stadt-Teile oder aber urbane Prozesse und Differenzierungen – bleiben dem einzelnen Blick notwendig verborgen, unsichtbar. Das urbane Gebilde ist per se in eine Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit eingelassen.

Zusammengefasst: Die Stadt ist auch und all das, was nicht zu sehen, besser: was nicht erfahrbar ist. Unsichtbarkeit meint Unerfahrbarkeit, meint Unwissen als eine epistemische Bruchstelle.

2.

Um dem entgegenzuwirken, wurden bereits in der frühen Neuzeit zahlreiche Visualisierungstechniken, Techniken des Sichtbarmachens, auch der Rationalisierung programmiert, die ein Blick auf das Ganze zumindest simulieren, bzw. über Zeichensysteme substituieren helfen sollten. Jedoch ist diese Entwicklung stets eine zwischen Aufklärung und Hegemonie.

Martin Christoph Wieland hat auf die Frage: “An welchen Folgen erkennt man die Wahrheit der Aufklärung“, geantwortet: „Wenn es im ganzen heller wird; wenn die Anzahl der denkenden, forschenden, lichtbegierigen Leute überhaupt... immer größer, die Masse der Vorurteile und Wahnbegriffe zusehends immer kleiner wird; wenn die Scham vor Unwissenheit und Unvernunft, die Begierde nach nützlichen Kenntnissen und besonders, wenn der Respekt vor der menschlichen Natur und ihren Rechten unter allen Ständen unvermerkt zunimmt...“.4 Kommen wir also zu den Luminierungsstechniken die, und das ist mir wichtig, stets auch Raumtechniken sind, sie evozieren eine Redefinition des städtischen Raumes, erweitern, ja ermöglichen allererst einen je besonderen Gebrauch.

Als erstes sind hier die ersten Stadtpläne zu nenen, Giambattista Nolli´s „Neuer Plan von Rom“ von 1748 etwa, der erste „Modernist“ unter den Stadtplanern. Gegen die Stadtansichten der früheren Karten (so bspw. Michel Turgots Paris Karte von 1734) schuf Nolli entsinnlichte, objektivierte Übersichten. Der Stadtplan zeigt die Stadt als abstrakten Grundriss für den planerischen Blick. Der Plan teilt den Raum dichotomisch in ein Gewebe, eine auf Ähnlichkeit und Wiederholung hin definierte Masse an Wohn- und Arbeitsstätten, die schwarz markiert sind, und in eine bestimmte Menge an Objekten, Monumenten und Verkehrswegen, die jedwede Form der Öffentlichkeit im Außen- und Innenraum aufnehmen und weiß, also eigentlich leer, unmarkiert, man könnte auch sagen „unsichtbar“ sind. Zum einen ist Nolli´s Plan ein erster Versucht über eine rationale Ordnung eine Sichtbarkeit einzuführen, die es dem Bewohner erlaubt, Orientierung und Übersicht zu finden. Zum anderen ist die kartographische Beschreibung des öffentlichen Raumes als Unbestimmtheit eine Unschärferelation, ein Organismus aus unbekannten Variablen. Die Öffentlichkeit auch der Straße wird hier eingezeichnet als ein Bewegungs-, ein Übertragungsraum, der für den Benutzer den Kontakt mit einer nicht vorhersehbaren Zahl an für ihn überraschenden, unbekannten und fremden Elementen in stetem Wechsel herbeiführt.5  

Peter Eisenmann hat in seinen Studien zu einer „Architektur der Abwesenheit“ auch Elemente einer „Architektur der Unsichtbarkeit“ freigelegt. So etwa in Giovanni Battista Piranesi´s Plan des Campo Marzio von 1748: „Piranesi geht vom Rom des 18. Jh. aus, doch hat es für ihn keinen Wert an sich; es ist nur etwas, was in der Gegenwart vorhanden ist. Aus diesem existentiellen Moment nimmt er Gebäude, die es im 1. Und 2. Jh. im Römischen Reich gab, und stellt sie in den zeitlichen und räumlichen Rahmen des 18. Jh. Dann verschiebt Piranesi Denkmäler aus dem 1. Jh. von ihrem ursprünglichen Standort auf andere Plätze, als wären dies ihre tatsächlichen Standorte im 18. Jh. Außerdem plant er Gebäude, die es nie gegeben hat und die auf den ersten Blick wie Erinnerungen an Gebäude erscheinen, die es geben hätte können, weil sie so lange wie echte Gebäude aussehen, bis man nach ihrer Funktion fragt... Der Ort wird zu einer zwischenräumlichen Spur zwischen Objekten, Spuren in Raum und Zeit. [...] Er ist ein multiples Palimpsest, eine Reihe von Überlagerungen, die Fakten und Fiktionen vermischen.“6 Der Plan wird von Eisenman zum „Diagramm“ umdefiniert, das als „Schablone von Möglichkeiten“ gegen eine „Metaphysik der Präsenz“ zum Einsatz kommt.

Nicht nur die Stadtpläne sind interessant, auch die von den Verwaltungen eingeführten empirischen, statistischen Verfahren, die Tabellen, Listen und Diagramme (die Geburten- und Sterbestatistiken, der U-Bahn Plan, das Telefonbuch etc.) schaffen Ordnungssysteme. Karten, Listen und Diagramme machen die Stadt zwar nicht erfahrbarer, ermöglichen jedoch auf bestimmte messbare und abbildbare Eigenschaften der Stadt zu zeigen und über diese Visualisierungen dem Bewohner zumindest eine partielle Orientierung anbieten. Es sind analytische Bilder und Daten, Funktionsbilder, die den „Systemraum Stadt“ erschließen helfen sollen. Die das Unsichtbare zu übertragen versuchen in lesbare, sichtbare Werte.

Ich werde nun nicht all die anderen zahllosen Luminierungstechniken befragen, die die Stadt heller, verfügbarer, sinnhafter machen, die Elektrifizierung bspw., die visuellen Leitsysteme, die die Stadt durchziehen, die Videoüberwachung. Ich konzentriere mich hier auf jenes „absolute“ Bild der Stadt, das heute das Internet anbietet. Die Websites sind Funktionsbilder, die mehr können, als nur Daten vermitteln, die – als mediale Performanz – Urbanität redefinieren helfen, die vollkommen neue Modelle von Komplexitätserfahrung anbieten, zugleich den sozialen Raum aufwerten.

3.

Ein jedes Soziale findet sich heute im Internet repräsentiert bzw. ist potentiell im Netz als sein mediales Artefakt verfügbar. Insoferne ist das Internet ein Universalmedium und also lässt sich auch umgekehrt argumentieren: Das Netz verkörpert die Totalität alles Sozialen, es ist das „reine Soziale“. 

Gleiches gilt für die Städte: Eine jede Stadt ist heute im Netz in mannigfacher Weise funktional dupliziert. Wichtig ist jedoch, dass anstelle einer bloßen Verdoppelung von Realität neue Wahrnehmungs- und Handlungsräume erschlossen werden. Erst das Internet – als ein auf Vielfalt ausgerichtetes, partizipatives Medium – vermag in umfassender Weise die unterschiedlichen Systemräume der Stadt zu zeigen und auf sie einzuwirken. Eine in der Soziologie vertraute Argumentation arbeitet mit der Kategorie der Projektion um Zusammenhänge oder Abhängigkeiten herauszuarbeiten. So etwa in folgender These: „Residentielle Segregation ist die Projektion sozialer Ungleichheit in den (städtischen) Raum.“7 Es ließe sich auch sagen: Segregation ist die Abbildung von Ungleichheit im Raum. Diese Denkweise setzt voraus, dass der Raum selbst untätig ist und etwas „erleidet“. Gleiches passiert in medientheoretischen Argumentationen, die den Medien unterstellen, dass sie „bloß“ Gesellschaft abbilden. Auf das Internet bezogen könnte dann die Schlussfolgerung lauten: Soziale Ungleichheit wird ins Internet projiziert und bildet dort gleichfalls Segregation aus: Migranten haben ihre eigenen kleinen Seiten, die im Schatten der mächtigen, offiziellen Seiten stehen. Ist das Internet also bloß ein statisches Spiegelbild der Gesellschaft oder der Stadt? Ich würde dem vier Punkte entgegenhalten.

Universalmedium: das Internet ist Universalmedium, da es alles Soziale darstellen und weltweit sichtbar machen kann. Das Netz verkörpert auf der Basis seiner universellen Verfügbarkeit, seiner omni-perspektivischen und dialogischen Konstitution das reine Soziale. Das Netz ist stets grösser, als sein individueller Gebrauch.

Raumdifferenzierung: das Internet praktiziert eine Raumvielfalt, eine Raumdifferenzierung – jedoch ohne Hierarchie, ohne Eigentumsverhältnisse oder Ungleichheit. Es schafft ein mediales Nebeneinander, besser eine Koexistenz von Partikular-, Gemeinschafts-, Institutions- und Kapital-Interessen, die wesentlich mehr und anderes ermöglicht, als ihre faktische Koexistenz in der „realen“ Stadt oder der „realen“ Welt.

Prozeßdifferenzierung innerhalb der Raumdifferenzierung: das Internet bietet unterschiedlichste Programme des Austauschs, der Kommunikation, der Koinzidenz an: von der Formularkorrespondenz zu P2P, von Mailinglisten und Chatrooms zu Weblogs. Diese Interaktionsdifferenzierung erlaubt es, Spezialisierung und Individualisierung auf eine Weise voranzutreiben, wie das bisher kein anderes Medium ermöglichte.

Kontingenz: das Internet ist aufgrund seiner Linkstruktur, also seiner Hypertextlogik, in der Lage, dem User Ungewolltes, Unvorhersehbares, Neues zukommen zu lassen und also ihn vertraut zu machen mit der Einsicht, dass, wie Luhmann anmerkte, „alles auch anders sein kann“.

In dieser Argumentation begründet das Netz einen eigenen Raum, einen sozio-medialen Raum, der Teil einer Geoästhetik der Medien ist. Geoästhetik des Internet, das meint die audio-visuelle und kommunikative Vernetzung sozialer Räume, ihre Wahrnehmung und das Handeln mit ihnen. Jegliche Stadtrepräsentation ist Ausdruck einer solchen Geoästhetik des Netzes. Wie kein anderes Medium ermöglicht das Internet eine mediale Performanz des Urbanen. Ich konzentriere mich in einem ersten Schritt auf die offiziellen Repräsentation von Stadt im Netz, also bspw. auf. Drei Eigenschaften des Netzes gilt es zu unterscheiden. Stadtrepräsentationen im Internet sind Selbstdarstellungen im Sinne einer Demonstration von Verwaltungskomplexität einerseits, von Funktionsdifferenzierungen des Urbanen andererseits. Die gesamte Verwaltung der Institutionen der Stadt wird sichtbar gemacht. Zugleich werden die gesellschaftlichen Kräfte, die die Stadt mitkonstitutieren, ausgestellt: die Wirtschaft, damit die Arbeit und der Arbeitsmarkt, die Kultur und die Spektakel, die Geschichte der Stadt, das Wohnen und Leben, die Fortbewegung in ihr.

Parallel zu diesen Repräsentationsszenarien werden individuelle Aktionspotentiale für die Navigation innerhalb der Komplexität und der Differenzierung angeboten. Erstens wird Orientierung versprochen: Welche Möglichkeiten, Institutionen gibt es überhaupt, welche Dienste stehen zur Verfügung? Zweitens wird Wissen vermittelt: Was leisten die einzelnen Bereiche, welche Inhalte bieten sie an? Und drittens werden Handlungsanleitungen angeboten: Wie muss ich mich organisieren, wie mich verhalten, um dieses oder jenes zu erreichen? Diese drei Aktionspotentiale betreffen vor allem den Kontakt mit Verwaltungen oder öffentlichen Diensten, aber auch jene Bereiche, die Störungen und Probleme auffangen, wie etwa Notdienste, Selbsthilfegruppen, bestimmte Vereine... Navigation bedarf jedoch auch einer Search-Funktion, also einer Datenbank, deren Keywords über eine „Suche“- oder „Recherche“-Funktion abgefragt werden können. Eine solche Datenanlage offenbart schnell, ob die Seiten tatsächlich die urbane, zivile Landschaft großflächig erfassen und auch Konfliktfelder einbeziehen, oder aber die Politik bloß an eitler Selbstrepräsentation interessiert ist. D.h. mit dieser Funktion ändert sich die Richtung: Nicht das, was man nicht weiß, wird gesucht, sondern das, was die Datenbank nicht weiß oder nicht wissen will, wird überprüft.

Neben diesen Angeboten spielt das Netz noch eine ganz andere, innovative Funktion aus, die eines neuen, öffentlichen Raumes. Mit dem Internet tritt das erste Mal in der Geschichte der Massenmedien ein mediales System in Erscheinung, das alle Empfänger zu Produzenten, Sendern macht, dessen, partizipative Dimension eine „mediale Weltöffentlichkeit“ inauguriert, die vollkommen eigenständige, souveräne Strukturen des Austauschs, der Kommunikation ausbildet. Gemeint sind die Messaging Boards, die Mailing-Listen, die Chat-Foren, die von Individuen, Gruppen, Communities gebauten Websites, die Content-Managment-Systeme, die Web-Logs, die P2P-Systeme... Diese „Koinzidenztechniken“ machen aus den Netizens ein Publikum, eine mediale Öffentlichkeit, dessen Souveränität das Netz in eine demokratische Institution verwandelt. D.h. die offiziellen Stadtseiten sollten einerseits diskursive Interfaces für die politische Kommunikation anbieten, zum anderen aber gleichfalls eine Sichtbarkeit zu all jenen Seiten herstellen, die das Stadtleben, die urbanen Konflikte von zivilen Akteuren aus reflektieren.

Es ist nun erstaunlich zu beobachten, dass die offiziellen Stadtseiten sich beinahe gänzlich dieser partizipativen Dimension des Netzes verweigern – sie repräsentieren und geben Anweisungen, sind aber nicht bereit mit dem einzelnen Bürger, den Vereinen und Initiativen in eine diskursive, öffentliche Auseinandersetzung über die Vielzahl an urbanen Konflikten zu treten. Abgesehen von den notwendig bereit zu stellenden Ressourcen, müssten Politiker und Beamte bereit sein, mit den Bewohnern sich offensiv auszutauschen - und sie nicht nur zur Wahl zu bitten. Gerade die Konfliktlandschaft einer Stadt würde – im Sinne einer tatsächlichen Beteiligungsdemokratie (Claus Leggewie) – diese medialen Schnittstellen benötigen, um dem einseitigen Machtgefälle entgegenzuwirken.

Doch liegt hier nicht ein Fehler in der Wahrnehmung und Erwartung meinerseits vor? Warum sollte die verwaltungspolitische Site der Stadt Darmstadt mehr tun, als gerade diese ihrer Bestimmung folgen, Verwaltung zu sein? Andererseits: Ist das nicht ein etwas verkürzter Begriff von Politik? Das Netz ist per se dezentral, also wird es stets auch verschiedene Manifestationen, Optionen von Sichtbarkeit geben, Alternativen zur „offiziellen Lichtung“, die ja tatsächlich auch vieles im Dunkeln lässt, bzw. erst dorthin verlegt.

Viele Konflikte spielen sich nicht auf lokaler Ebene alleine ab oder lassen sich von dieser repräsentieren, sie dehnen sich vielmehr auf viele Regionen und Städte aus und vor allem haben sie oft keine lokale Ursachen. Probleme wie Migration, Segregation, Arbeitslosigkeit, Armut, geschlechtliche Benachteiligungen sind von einem globalen Ausdruck und einer solchen Austragung geprägt. Hier spielt das Internet seine „wahren Kräfte“ aus im Sinne translokaler Vernetzungen.

4.

„Für die Großstadt ist dies entscheidend, daß ihr Innenleben sich in Wellenzügen über einen weiten nationalen oder internationalen Bezirk erstreckt. ... Das bedeutsamste Wesen der Großstadt liegt in dieser funktionellen Größe jenseits ihrer physischen Grenzen: und diese Wirksamkeit wirkt wieder zurück und giebt ihrem Leben Gewicht, Erheblichkeit, Verantwortung.  Wie ein Mensch nicht zu Ende ist mit den Grenzen seines Körpers oder des Bezirkes, den er mit seiner Thätigkeit unmittelbar erfüllt, sondern erst mit der Summe der Wirkungen, die sich von ihm aus zeitlich und räumlich erstrecken: so besteht auch eine Stadt erst aus der Gesamtheit der über ihre Unmittelbarkeit hinausreichenden Wirkungen. Dies erst ist ihr wirklicher Umfang, in dem sich ihr Sein ausspricht.“8

Als Simmel dies schrieb, war die Stadt das einzige „Expertensystem“ für das Nicht-Sichtbare, das Komplexe, die Ausdifferenzierung der Systeme. Heute ist das anders. Das „Netz der Netze“ ist keine Stadt. Jedoch ist es Expertensystem für das Nicht-Sichtbare geworden. Das „Innenleben“ des Internet, das sind alle angeschlossenen Rechner weltweit, das sind alle Sites auf allen Rechnern weltweit. D.h. das Netz ist vielleicht der prägnanteste Ausdruck für die Formel des „Weltinnenraums“, von dem einerseits die politische Philosophie Hardt/Negri´s berichtet, zum anderen die historische Anthropologie von Peter Sloterdijk. Die ganze Welt als Innenraum, als Interieur denken, das wir niemals von außen betrachten können, in dem wir uns aber großflächig bewegen sollten. Zum Beispiel mit dem Internet. Seine „funktionelle Grösse“ ist die Möglichkeit eines angeschlossenen Individuums, alle anderen angeschlossenen Individuen oder Institutionen oder Machtzentren wahrzunehmen, vielleicht mit ihnen zu kommunizieren. Das Internet funktioniert nicht wie ein geographischer Raum mit einem Hier und einem Dort, es ist ein rein relationaler Raum mit dem ausschließlich ein Hier und ein Jetzt gegeben ist. Jedes individuelle Interface ist in jedem Augenblick die Mitte der Welt für die Datenströme. Sehr wohl lässt sich jedoch sagen, dass jede Internetseite an der „Summe und Wirkungen“ gemessen werden kann, „die sich von ihm aus zeitlich und räumlich erstrecken“. Somit erfährt etwa eine Seite wie blogsbyiranians.com ihre Legitimation aus ihrer urbanen Qualität, so viele Menschen wie nur möglich nicht nur im Iran, sondern weltweit, im Weltinnenraum zu erreichen.

Teil des Netzes zu sein bedeutet Teil einer Urbanität als Lebensform zu sein.

  • 1 Armin Nassehi: Dichte Räume. Städte als Synchronisations- und Inklusionsmaschinen. In: Martina Löw (Hg.): Differenzierungen des Städtischen. Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 228.
  • 2 Georg Simmel: Das Geheimnis. Eine sozialpsychologische Skizze. In: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 Band II. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 317.
  • 3 G.W. Leibniz: Die Prinzipien der Philosophie oder Die Monadologie. In: Kleine Schriften zur Metaphysik. Philosophische Schriften Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1965, § 57 S. 465.
  • 4 Hans-Martin Wieland: Sechs Fragen zur Aufklärung. In: Was ist Aufklärung? Stuttgart 1974, S. 27.
  • 5 Siehe meinen Text: Wrong Way. Zur Darstellbarkeit nachmoderner Städte im zeitgenössischen Hollywood-Kino am Beispiel Los Angeles. In: Medienkulturen. Wien: Sonderzahl 2002, S. 158f.
  • 6 Siehe meinen Text: Wrong Way. Zur Darstellbarkeit nachmoderner Städte im zeitgenössischen Hollywood-Kino am Beispiel Los Angeles. In: Medienkulturen. Wien: Sonderzahl 2002, S. 158f.
  • 7 Hartmut Häußermann, Walter Siebel: die Mühen der Differenzierung. In: Martina Löw (Hg.): Differenzierungen des Städtischen. Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 33.
  • 8 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 Band 1. Frankfurt am Main 1995, S. 126-127.